Migranten sind heute weltweit eine deutlich vielfältigere Gruppe als noch vor 30 oder 40 Jahren. Durch diese größere Vielfalt oder Diversität ändern sich die Gesellschaften weltweit, auch in Deutschland. Aber wie geht es den Menschen, die nach Deutschland kommen? Welche Vorstellungen hatten sie von Deutschland vor ihrer Ankunft? Wie erleben sie die Deutschen? Ein Gespräch mit Fahed, 22, aus Syrien, der sich gerade in Niedersachsen auf sein Abitur vorbereitet.
Audiodatei | 20 min, März 2021
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Mit Unterrichtsmaterial: Lehrerinfo und Aufgaben für Schülerinnen und Schüler
Nach Angaben der Online Plattform Statista waren 2022 weltweit mehr als 108 Millionen Menschen auf der Flucht. Was sind die Ursachen dafür, dass sie sich auf den Weg machen in ein anderes Land? Auf welchen Wegen kommen sie nach Deutschland? Welche Rolle spielt der Rechtsstatus für ihr Leben im neuen Land? Über diese Fragen spricht Journalistin Eva Völker mit einem Migranten: Fahed, 22 Jahre alt, aus Syrien. Er flüchtete mit seiner Familie aus Aleppo – zunächst in eine andere Stadt in Syrien, dann in die Türkei. Von dort machte er sich 2016 alleine auf den Weg nach Deutschland.
Audiodatei | 16 min, März 2021
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Mit Unterrichtsmaterial: Lehrerinfo und Aufgaben für Schülerinnen und Schüler
Die Sammlung enthält Aufgaben zu folgenden Themen:
Verstädterungsgrad / Lage der Megastädte / Meeresspiegelanstieg / Hochwasser: Folgen für die Menschen in Megastädten
Unterrichtsmaterial zum Geomax 28
Menschen in küstennahen Metropolregionen müssen aufgrund von Hochwasser immer wieder umziehen. Die farbigen Pfeile zeigen Kreisläufe. Rot: Menschen verlieren ihren Wohnraum und siedeln sich in einiger Entfernung von der Küste wieder an. Dort werden sie nach kurzer Zeit von der nächsten Überschwemmung eingeholt. Blau: Menschen ziehen an den Stadtrand. Es bilden sich informelle Siedlungen, die überschwemmt werden, die Menschen müssen neue Wohnplätze suchen. Grün: In den Slums werden Menschen durch Gentrifizierung verdrängt und siedeln sich wieder auf Freiflächen an, die näher am Zentrum liegen. So entstehen neue informelle Siedlungen.
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Seit 2007 leben mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden 2030 fünf von achteinhalb Milliarden Menschen in Städten wohnen. Schon heute gibt es 34 Städte beziehungsweise Metropolregionen mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Sie werden Megastädte oder Megacitys genannt und sind geprägt von Gegensätzen zwischen größter Armut und höchstem Luxus. Viele von ihnen liegen nah an der Küste. Damit sind sie durch den steigenden Meeresspiegel unmittelbar bedroht.
Urbane Räume sind Anziehungspunkte für Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben. Der stetige Zuwachs an Menschen stellt gerade die Metropolen des globalen Südens vor gewaltige strukturelle Probleme: Dort schreitet der Anstieg der Bevölkerung so rasant voran, dass Arbeitsplätze fehlen, die Behörden überfordert sind und der Ausbau von Infrastrukturen und Wohnraum nicht Schritt halten kann. Die Folgen sind sozioökonomische und räumliche Fragmentierungen der Stadtgesellschaft. Es entstehen informelle Stadtviertel, die je nach Region als Slums oder Favelas bezeichnet werden und von schlechter Baustruktur und prekären Lebensverhältnissen geprägt sind. Menschen, die dort wohnen, sind auf mehreren Ebenen marginalisiert: Sie sind sowohl räumlich als auch wirtschaftlich, politisch und sozial ausgegrenzt. So haben sie etwa einen schlechten oder gar keinen Zugang zu sauberem Wasser oder medizinischer Versorgung und können nur eingeschränkt auf Extremereignisse wie Erdbeben oder Hochwasser reagieren. Megastädte in Küstennähe sind daher vom Anstieg des Meeresspiegels infolge des Klimawandels besonders bedroht (Abb. A). Die meisten Megastädte und die größten Metropolregionen der Welt befinden sich in Asien – einer Region, die bereits heute von klimabedingten Extremereignissen stark betroffen ist und laut Experten auch in der Zukunft noch häufiger und stärker betroffen sein wird. Dort treffen Naturgefahren auf gesellschaftlich vermittelte Vulnerabilität.
Abb. A: Städte weltweit. Die Karte zeigt den prozentualen Anteil von Städten mit 500.000 oder mehr Einwohnern (Daten aus dem Jahr 2018). Vierzehn Länder oder Gebiete besitzen einen niedrigen Urbanisierungsgrad, d. h. weniger als 20 % ihrer Bevölkerung leben in städtischen Gebieten. Im Gegensatz dazu liegt der Anteil der städtischen Bevölkerung in 65 Ländern bereits bei über 80 Prozent. Viele Megastädte (rote Kreise) befinden sich an Küsten oder in Küstennähe.
© United Nations, DESA, Population Division (2018) / CC BY 3.0 IGO
Der globale Meeresspiegel ist im 20. Jahrhundert zunehmend angestiegen (Abb. B). Aufgrund der Trägheit des Klimasystems wird er – selbst bei einem sofortigen Stopp aller Treibhausgas-Emissionen – für mehrere Jahrhunderte weiter steigen. Hunderte Millionen Menschen, die weltweit in Küstennähe leben, sind durch diesen Anstieg bedroht. In Asien könnten Metropolen wie Shanghai, Hanoi, Dhaka, Mumbai, Jakarta oder Kolkata überflutet werden. Besonders gefährdet sind Delta-Gebiete – flache Regionen, die durch den Zusammenschluss von Flussarmen und deren Sedimentablagerungen entstehen. Solche Landstriche sind klassische Siedlungsgebiete für Menschen. Ein Grund sind die Schwemmböden, die mit nährstoffreichen Sedimenten aus dem Fluss versorgt werden. Diese fruchtbaren Böden bringen hohe Erträge in der Landwirtschaft, ihre Nutzung führt aber gleichzeitig zu Bodenabsenkungen: Als Folge der Trockenlegung im Zuge des Ackerbaus ziehen sich tiefer liegende Erdschichten zusammen. Dadurch entstehen Absenkungen, die sich über große Gebiete verteilen. In Ballungszentren wie Dhaka und Kolkata kommen Bodenversiegelung und die exzessive Entnahme von Grundwasser hinzu. So entstehen regionale Absenkungen von mehreren Zentimetern pro Jahr, die den lokalen Meeresspiegelanstieg verstärken. Häufiger auftretende Extremwetterlagen verursachen Sturmfluten, die im Zusammenspiel mit einem erhöhten Meeresspiegel katastrophale Folgen haben. Wohngebiete werden überflutet, das anbrandende Meerwasser trägt die Küste ab und vernichtet Lebensraum und Anbauflächen. Dies betrifft vor allem dicht besiedelte, informelle Siedlungen, die häufig in Küstennähe errichtet werden.
Abb. B: Anstieg des Meeresspiegels. Das Diagramm zeigt die Veränderung des globalen Meeresspiegels seit 1993, wie sie von Satelliten beobachtet wird. Infolge der globalen Erwärmung steigt der Meeresspiegel in einem Ausmaß an, wie es in den letzten 2.500 Jahren noch nie vorgekommen ist.
© NASA, Goddard Space Flight Center
Die Metropolregion Kolkata befindet sich im bengalischen Delta am Fluss Hugli, einem Mündungsarm im westlichen Gangesdelta. Die Gegend liegt durchschnittlich nur sechs Meter über dem Meeresspiegel. Kolkata ist die Hauptstadt des Bundesstaates Westbengalen und mit ihren 4,5 Millionen Einwohnern (Zahlen vom letzten verfügbaren Zensus im Jahr 2011) die siebtgrößte Stadt Indiens. In der Metropolregion leben demnach 14,1 Millionen Einwohner. Andere, inoffizielle Schätzungen gehen von bis zu 30 Millionen aus. Damit bildet diese Region auf einer Fläche von 187,33 Quadratkilometern den drittgrößten Ballungsraum des Landes. Die Bevölkerungsdichte entspricht derjenigen, als würden alle Einwohner von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg auf einem Gebiet so groß wie Potsdam leben. Obwohl der Wohnraum immer knapper wird, ziehen mehr und mehr Menschen nach Kolkata. Was macht die Megastadt so attraktiv? Arne Harms, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle, nennt zwei Faktoren: „Kolkata ist ein Sehnsuchtsziel für Migranten aus Indien, die in die Region ziehen, um ihr Überleben zu sichern. Jobs als Tagelöhner findet man dort relativ leicht. Aber Kolkata ist auch eine Stadt des kulturellen Erbes und für die Bengalen sehr bedeutsam.“ Hinzu kommt, dass viele Menschen aus den Küstenregionen in die Städte ziehen, weil sie wegen eines drohenden oder akuten Hochwassers ihre Wohnungen verlassen müssen. Um zu verstehen, wie ökologische und ökonomische Krisen oder die Globalisierung das Leben an der Küste verändern, verknüpft Harms Ansätze aus der politischen Ökologie und der Infrastrukturforschung.
Die politische Ökologie betrachtet Umweltprobleme in ihrem historischen, politischen und ökonomischen Kontext. Welche Rolle spielen wirtschaftliche Verhältnisse und Machtdynamiken für den Zugang zu Trinkwasser oder den Schutz vor Fluten? Wie beeinflusst der steigende Meeresspiegel politische und wirtschaftliche Entscheidungen und Abläufe? Fragen wie diese ermöglichen es, komplexe Zusammenhänge aufzudecken. Die Infrastrukturforschung beschäftigt sich zum Beispiel mit der Frage, wie Dämme, Straßen und Brücken die Entscheidungen und das Handeln der Menschen beeinflussen. Bei der Datenanalyse untersuchen Forschende die Interessen und Machtverhältnisse der beteiligten Akteure und deren konkrete Handlungsmuster. Harms Forschung dreht sich um das zentrale Thema, wie sich das Leben in Küstenregionen durch den steigenden Meeresspiegel und die Urbanisierung verändert. Um das herauszufinden, sammelt er bereits seit 2009 Daten – in Interviews und Gruppendiskussionen, durch teilnehmende Beobachtung und Experteninterviews sowie die Auswertung von Dokumenten und Archivmaterial.
Die rasant wachsenden Slums in Kolkata sind besonders anfällig für extreme Naturereignisse. Aus Mangel an Alternativen entstehen sie oft an gefährdeten Standorten und sind daher ausgesprochen vulnerabel. Arne Harms befasst sich vor allem mit der sozialen Vulnerabilität der Bewohner: Inwiefern sind gesellschaftliche, soziale, ökonomische und naturräumliche Kategorien dafür verantwortlich, dass sich Menschen in vulnerablen Situationen befinden? Gleichzeitig untersucht er auch die Resilienz der Menschen – die Kapazitäten, aus denen sie schöpfen, um ihr Überleben zu sichern. „An der bengalischen Küste sind Überflutungen ein rhythmisch wiederkehrendes Phänomen“, sagt der Wissenschaftler. Diese Rhythmik betrifft zum einen die Jahreszeiten: In der Regenzeit sind die Wasserstände höher und die Deiche einem höheren Druck ausgesetzt. Dadurch erodiert das Land stärker. Die Rhythmik folgt aber auch den Mondphasen, denn bei Vollmond und Neumond sind die Gezeitenfluten höher als an anderen Tagen. Weil beides verzahnt ist, gelten die Vollmonde der Regenzeiten als die gefahrvollste Zeit: Deiche brechen und Menschen verlieren ihre Häuser. Schließlich ist auch das Leben mit Landverlust rhythmisch, denn mit den wiederkehrenden Fluten fallen immer wieder Teile der Küste der Erosion zum Opfer.
Die Menschen in der Region wissen um die Gefahr wiederkehrender Hochwasser und reagieren innerhalb ihrer Möglichkeiten. Sie ziehen weiter ins Landesinnere, wenn sie bei Bekannten oder Verwandten unterkommen oder es sich leisten können, ein Stück Land zu kaufen. Viele ziehen in notdürftig errichtete Hütten am Straßenrand. Dort werden sie häufig wieder von Flut und Erosion eingeholt, und der Prozess der Vertreibung durch das herannahende Wasser beginnt von neuem. In unmittelbaren Küstengebieten am Rand der Metropolregion bietet sich ein ähnliches Bild: „Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, suchten in einiger Entfernung von der Küste Sicherheit, nur um vom herannahenden Meer nach ein paar Monaten oder Jahren wieder eingeholt zu werden“, sagt Arne Harms. „Sie erleben also einen Wechsel von sicheren, trockenen Perioden und Zeiten, in denen sie unmittelbar vom Meer bedroht sind. Etliche haben bereits fünf- oder sechsmal ihre Bleibe verloren.“ Doch trotz der immer wiederkehrenden Gefahr durch das Wasser ziehen nur wenige weiter weg: „Die gewohnte Umgebung, die lokalen Netzwerke und gemeinsame Geschichten bieten den Menschen Sicherheit“, sagt der Wissenschaftler. Hinzu kommt, dass die Migration in weit entfernte Städte im Landesinneren viele Gefahren birgt: „Die meisten, die auf diversen Migrationspfaden unterwegs sind, kommen mit ziemlich üblen Geschichten nach Hause. Viele werden von Mittelsmännern um ihren Lohn gebracht. Sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung, besonders auf Frauen, die ihr Geld als Hausangestellte verdienen. In der Ferne erleben die Menschen Entrechtung, Willkür, und Ausbeutung. Deshalb bleiben sie lieber dort, wo sie sind, und verharren in ihrer vulnerablen und marginalisierten Lage.“
Hinzu kommt, dass die Behörden von Kolkata mit dem rasanten Bevölkerungswachstum längst überfordert sind. Oft werden die marginalisierten Teile der Bevölkerung bei der Stadtplanung benachteiligt. Stattdessen setzen sich immer mehr die Ideale der Mittelklasse durch. Informelle Siedlungen finden darin keinen Platz, denn sie gelten als Orte von Krankheit, Armut und Schmutz. Harms schildert, dass die Menschen in den Slums faktisch entrechtet werden. Sie sehen sich vom Bauboom überrollt, durch Gentrifizierung verdrängt: „Neue Skyscraper-Bauprojekte sind nur für die Mittelklasse vorgesehen, welche die Arbeitskraft der marginalisierten Bevölkerung nutzt, etwa als Bauarbeiter oder Hausangestellte. Rehabilitationsprojekte für informelle Siedlungen werden am Stadtrand geplant, weit entfernt von guten Arbeitsplätzen und Einkommensmöglichkeiten. Sie sind daher oft von vornherein zum Scheitern verurteilt.“ In Folge siedeln sich die Menschen wieder auf Freiflächen an, die näher am Zentrum liegen. So schaffen sie neue informelle Strukturen und Siedlungen. Es entsteht ein Kreislauf, „ein Ziehen und Zerren um Land und Ressourcen“, so Harms. Der Wissenschaftler hat in Kolkata mit Herrn Das gesprochen. Dieser ist im Alter von 37 Jahren in die Stadt gezogen. Wegen der Fluten und der Küstenerosion hatte er zuvor fünfmal seine Bleibe verloren. Im Dorf an der Küste sah er daher für sich und seine Familie keine Zukunft. Doch wie er sagt, werde auch das Leben in dem Viertel, in dem er jetzt wohnt, immer schwieriger – vor allem wegen wachsender Probleme, an Trinkwasser zu kommen. Zudem steht er kurz davor, sein Haus erneut zu verlieren: Die informelle Siedlung, in der er mit seiner Familie wohnt, muss weiteren Hochhäusern weichen. So haben Flut und Erosion einerseits sowie Gentrifizierung andererseits für die Menschen im bengalischen Delta letztlich die gleichen Auswirkungen: Sie wissen nicht, wo sie bleiben sollen (Abb. C).
Abb. C: Vulnerable Bevölkerung. Menschen in küstennahen Metropolregionen müssen aufgrund von Hochwasser immer wieder umziehen. Die farbigen Pfeile zeigen Kreisläufe. Rot: Menschen verlieren ihren Wohnraum und siedeln sich in einiger Entfernung von der Küste wieder an. Dort werden sie nach kurzer Zeit von der nächsten Überschwemmung eingeholt. Blau: Menschen ziehen an den Stadtrand. Es bilden sich informelle Siedlungen, die überschwemmt werden, die Menschen müssen neue Wohnplätze suchen. Grün: In den Slums werden Menschen durch Gentrifizierung verdrängt und siedeln sich wieder auf Freiflächen an, die näher am Zentrum liegen. So entstehen neue informelle Siedlungen.
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Eine Möglichkeit, den Überflutungen durch den steigenden Meeresspiegel entgegenzuwirken, ist der Bau von Deichen. „Diese bieten aber nur eine trügerische Sicherheit“, sagt Arne Harms. „Durch das Absinken des Bodens bildet sich hinter dem Deich eine Art Tasse, die bei einem Dammbruch vollläuft und aus der das Wasser nicht mehr ablaufen kann. Deiche bieten daher keinen ausreichenden Schutz. Sie vermitteln zunächst Sicherheit, doch wenn sie brechen, sind die Folgen umso gravierender.“ Eine andere Lösung besteht darin, das Wasser abzupumpen. In Kolkata haben Stadtplaner und Investoren einen großen innerstädtischen Bereich, den Salt Lake District, weitgehend überschwemmungssicher gemacht. Sie haben das Land höher gelegt, Pumpen installiert, Schleusen und Dammsysteme gebaut – ein gigantischer Aufwand zum Hochwasserschutz. Heute wohnt in dem Gebiet eine wohlhabende Bevölkerung. In seinem Umkreis wachsen dagegen die informellen Siedlungen derjenigen, die Dienstleistungen für die Reichen erledigen. „Diese Menschen leben mit einem nochmals höheren Hochwasserrisiko, weil dort zusätzlich das Wasser aufläuft, das aus den geschützten Bereichen abgepumpt wird“, sagt Arne Harms. „So gehen derlei Prestigeprojekte an einer Lösung vorbei, weil sie die Frage der sozialen Verwundbarkeit ausklammern.“ Bisherige Hochwasserschutzprogramme in der Region konzentrieren sich vor allem auf Schutzräume für den Ernstfall, sogenannte Cyclone Shelter. Während diese bei Sturmfluten Menschenleben retten, können sie dem Problem versinkender Landschaften nichts entgegensetzen. So müssen die Menschen, die in informellen Siedlungen an den gefährdeten Stadträndern leben, in ihrem Alltag mit der ständig drohenden Katastrophe zurechtkommen. Um ihren Lebensraum zu erhalten, reparieren sie teils in Eigenregie und damit illegal die Deiche. So schützen sie – weitgehend unbemerkt – auch die Menschen im Inland.
Auf der Grundlage seiner Forschung im Raum Kolkata entwickelte Arne Harms die These der „Verteilten Katastrophe“. Sie schlägt nicht als ein weithin sichtbares Schadensereignis zu, sondern ist verteilt in Raum und Zeit. In den Küstenregionen tritt sie in breiter Front auf, geprägt durch Jahreszeiten und Gezeiten. Die Menschen, die mit dieser konstanten Bedrohungslage leben, sehen die „echte Katastrophe“ in der Küstenerosion. Sie raubt ihnen das Land und damit die wichtigste Grundlage von Ökonomie, Zugehörigkeit und Geschichte. „Die Sorgen jener Menschen im bengalischen Delta, die mit bröckelnden Deichen, wiederkehrenden Überschwemmungen und dem Verschwinden von Land zu kämpfen haben, bleiben von staatlichen Institutionen und den mit humanitärer Hilfe beauftragten NGOs bisher weitgehend unberücksichtigt“, sagt der Wissenschaftler. „Trotz ihrer gravierenden Auswirkungen bleibt die Küstenerosion unter dem Radar des Nothilfeapparats. Daher ist nur wenig über das Leid der Menschen bekannt, die am Rand der erodierenden Küstenlinie Indiens ausharren.“ Um soziale Gerechtigkeit zu fördern, fordert der Max-Planck-Forscher deshalb eine neue Definition der Katastrophe: „Der Begriff „Katastrophe“ bezeichnet meist großflächige Schadensereignisse, die massenhaft Tod und Zerstörung bringen. Eine neue Definition müsste auch solche Dynamiken beinhalten, die räumlich und zeitlich entgrenzt und nur selten tödlich sind, die aber eine existenzielle Bedrohung darstellen und daher von den Menschen als Katastrophe erlebt werden.“ Was fehlt, sind nach Ansicht des Wissenschaftlers vor allem Ansätze einer gerechten Umsiedlung sowie ein ausgeklügelter Küstenschutz, der auch verarmte Küstengebiete und deren Bewohner berücksichtigt: „Nur so lässt sich die Bedrohung durch den weiter steigenden Meeresspiegel in den dicht besiedelten Küstenregionen Asiens abmildern.“
Abbildungshinweise:
Titelbild: © picture alliance / NurPhoto / Indranil Aditya
Abb. A: © United Nations, DESA, Population Division (2018) / CC BY 3.0 IGO
Abb. B: © NASA, Goddard Space Flight Center
Abb. C: © HNBM, MPG / CC BY-NC-SA 4.0
Der Text wird unter CC BY-NC-SA 4.0 veröffentlicht.
GEOMAX Ausgabe 26, Sommer 2023; Text: Duška Roth; Redaktion: Dr. Elke Maier, Dr. Tanja Fendt
© Latest Thinking
Ein Gespräch mit Steven Vertovec, Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, über die Gründe von Migration, kulturelle Vielfalt und gelungene Integration in Deutschland.
[27 min; deutsch/englisch]
Podcast vom 14. Dezember 2020 © detektor.fm / Max-Planck-Gesellschaft
Die Bevölkerungspyramide Deutschlands wird geprägt durch einschneidende demografische Ereignisse wie die Geburtenausfälle während der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs, das Geburtenhoch von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre (Babyboom) und der anschließende Geburtenrückgang sowie das Geburtentief in Ostdeutschland im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Die Bevölkerungspyramide der USA zeigt dagegen eine sehr viel gleichförmigere Altersstruktur.
© MPI für demografische Forschung / CC-BY-NC-SA 4.0
Geburtenverhalten von US-Amerikanerinnen mit Uni-Abschluss
Zuerst sinkt die Kinderzahl pro Frau, dann erst steigt das Alter bei der ersten Geburt. (1) Phase vor dem Aufschub: leicht sinkendes Alter bei der ersten Geburt bei relativ hoher Kinderzahl pro Frau. (2) Übergangsphase: allmählicher Anstieg des Alters bei der ersten Geburt und rasch sinkende Kinderzahl pro Frau. (3) Phase der Aufschub-Pionierinnen: Anstieg des Alters bei der ersten Geburt und deutlich sinkende Kinderzahl pro Frau. (4) Phase des „modernen“ Aufschubs: relativ hohes Alter bei der ersten Geburt und Zunahme der Kinderzahl pro Frau. (5) Konvergenzphase: Annäherung beider Gruppen hinsichtlich Alter bei der der ersten Geburt; die Kinderzahl ist nicht ermittelbar, da die Frauen derzeit noch im gebärfähigen Alter sind.
© MPI für demografische Forschung / CC-BY-NC-SA 4.0
Deutschland ist eines der wenigen Länder ohne Geburtenrückgang in Folge der ersten Welle der Pandemie. Die Abbildung zeigt die Geburtenveränderungen durch Covid im Vergleich zum Vorjahresmonat.
© MPI für demografische Forschung / CC-BY-NC-SA 4.0
Welchen Einfluss hat die Corona-Pandemie auf die Geburtenrate? Und stimmt es eigentlich, dass Frauen, die erst spät Mutter werden, insgesamt weniger Kinder bekommen? Anhand solcher und ähnlicher Fragen untersuchen Forschende, wie sich Bevölkerungen durch Geburten, Todesfälle und Migration verändern.
Die Corona-Pandemie hat Folgen für die Bevölkerung in allen Ländern der Erde. Auf dem gesamten Globus sind Menschen an einer Covid-19-Infektion gestorben. Meist wird auf die Mortalität und auf die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie geschaut, weitaus seltener auf die Folgen für die Migration oder die Fertilität in den einzelnen Ländern. Manche Medien spekulierten, es würde einen Babyboom geben, weil Paare während des Lockdowns mehr Zeit miteinander verbracht hätten. Mit Blick auf die Vergangenheit zeigt sich nach Krisen aber oft das Gegenteil: Pandemien wie die Spanische Grippe 1918 oder Wirtschaftskrisen wie die Finanzkrise von 2008-2009 führten zumindest kurzfristig zu einem Geburtenrückgang (siehe Kasten). Daher hatten zahlreiche Demografinnen und Demografen Zweifel an der Theorie vom Babyboom durch Corona – auch der Wirtschaftswissenschaftler Joshua Wilde vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock.
Die Bevölkerungspyramide Deutschlands wird geprägt durch einschneidende demografische Ereignisse wie die Geburtenausfälle während der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs, das Geburtenhoch von Mitte der 1950er bis Ende der 1960er Jahre (Babyboom) und der anschließende Geburtenrückgang sowie das Geburtentief in Ostdeutschland im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Die Bevölkerungspyramide der USA zeigt dagegen eine sehr viel gleichförmigere Altersstruktur. Eine spannende Forschungsfrage für die Zukunft ist, inwieweit sich die Covid-19-Pandemie auf die Bevölkerungspyramiden der beiden Länder auswirkt.
Bevölkerungspyramiden Deutschland – USA im Vergleich
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Wilde sagte voraus, dass die Geburtenrate in den USA zwischen November 2020 und Februar 2021 um ca. 15 Prozent einbrechen würde. Spannend daran ist, dass er seine Hypothese auf die Auswertung von Google-Suchbegriffen wie „Schwangerschaftstest“ stützte. Er war der erste Wissenschaftler, der Google-Daten für eine sehr spezifische Voraussage wie die über die Auswirkungen der Covid-Pandemie auf das Fertilitätsverhalten der Menschen in den USA genutzt hat. „Der Vorteil von Google ist, dass die Leute nicht lügen, wenn sie im Netz nach Informationen suchen – anders als bei Befragungen, wo sie nicht immer die Wahrheit sagen, wenn es um so intime Dinge wie das Sexualverhalten geht“, sagt Wilde. Er und sein Team stellten fest, dass im Untersuchungszeitraum seltener nach Begriffen wie „Schwangerschaftstest“ gesucht wurde als vor der Pandemie und zogen daraus den Schluss, dass weniger Frauen ein Kind erwarteten oder schwanger werden wollten als vorher. Und tatsächlich sank die Fertilität in den USA um die vom Team um Wilde vorhergesagten 15 Prozent. Wilde geht davon aus, dass sich die niedrigere Fertilitätsrate noch längere Zeit fortsetzen wird, ehe es zu einem Aufholeffekt, also einem überdurchschnittlichen Anstieg, kommt.
Ähnlich wie in den USA sind die Geburten auch in vielen europäischen Staaten zurückgegangen. Eines der Länder ohne Geburtenrückgang ist Deutschland, wo sich während des Abflachens der ersten Welle im Mai und Juni 2020 deutlich mehr Menschen für ein Baby entschieden als im Vorjahr. Das führte zu einem Anstieg der Geburtenzahlen im März 2021 um 10 Prozent gegenüber März 2020. „Erstaunlich ist, dass in Deutschland der Einbruch nie stattgefunden hat, und dennoch ist der Aufholeffekt da“, sagt Wildes Kollegin Natalie Nitsche. Die Demografin vermutet verschiedene Gründe dahinter: Beispielsweise seien Berufspendler viel zuhause gewesen und hätten möglicherweise den Lockdown als Chance gesehen, ihren Kinderwunsch zu realisieren. Eine Studie habe gezeigt, dass Menschen, die aufgrund der Pandemie Ängste und Ärger verspürt hätten, ihre gewünschte Kinderzahl im Vergleich zu vor der Pandemie nach oben korrigierten. Möglichweise habe eine empfundene Lebensbedrohung zu einer Neubewertung von Lebenszielen und Werten geführt. In anderen Staaten, insbesondere denen, die in der ersten Welle von hohen Inzidenzen und strengen Lockdowns betroffen waren, sind die Geburten allerdings wie in den USA stark zurückgegangen (Abb. A). Neben Sorgen vor dem Virus und wirtschaftlicher Unsicherheit könnte auch Stress dazu geführt haben, dass Frauen seltener schwanger wurden.
Abb. A: Geburtenveränderung durch Covid. Deutschland ist eines der wenigen Länder ohne Geburtenrückgang in Folge der ersten Welle der Pandemie. Die Abbildung zeigt die Geburtenveränderungen durch Covid im Vergleich zum Vorjahresmonat.
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Zusammen mit Hannah Brückner von der New York University Abu Dhabi hat Natalie Nitsche in einer anderen Studie untersucht, ob US-Amerikanerinnen mit Universitätsabschluss Kinder bekommen, und wenn ja, wann und wie viele. Sie vergleicht zwei Gruppen hochgebildeter Frauen, die zwischen 1920 und 1986 geboren wurden: zum einen solche mit Bachelor-Abschluss, zum anderen solche mit mindestens einem Master-Abschluss.
Für Frauen beider Bildungsniveaus beschreibt Natalie Nitsche fünf Phasen mit unterschiedlichem Geburtenverhalten. In jeder dieser Phasen bekommen Frauen mit mindestens einem Master-Abschluss später ihr erstes Kind als Frauen, die nur den Bachelor gemacht haben. Sie haben im Durchschnitt auch weniger Kinder, und mehr von ihnen bleiben kinderlos. Das ist durchaus erwartbar. Überrascht waren die Forscherinnen aber, dass im Verlauf des Untersuchungszeitraums bei Frauen beider Bildungsniveaus zuerst die Kinderzahl pro Frau sinkt und erst 2021 danach das Alter bei der ersten Geburt ansteigt (Abb. B). „Das ist ein Indiz dafür, dass die Reduzierung der Kinderzahl bei den hochgebildeten Frauen tatsächlich gewollt ist und nicht deswegen weniger Kinder geboren werden, weil man es so lange aufgeschoben hat. Das war so noch nicht bekannt“, sagt Natalie Nitsche.
Nicht nur beim Vergleich der Frauen mit verschiedenen Bildungsabschlüssen zeigen sich Unterschiede. Auch Frauen mit gleichem Bildungsniveau aus verschiedenen Jahrgängen unterscheiden sich beim Geburtenverhalten. So ist z. B. der Anteil kinderloser Frauen mit mindestens einem Master-Abschluss in der Kohorte der zwischen 1956 und 1960 geborenen deutlich höher als in der jüngeren Generation. Natalie Nitsche: „Die Kinderlosigkeit lag bei den zwischen 1956 und 1960 geborenen Frauen bei 33 Prozent, das ist schon enorm, aber sie ist dann auch wieder stark gefallen bei den Frauen, die in den 1970ern geboren sind, nämlich auf ca. 22 Prozent. Innerhalb von 15 Jahren zwischen den Geburtsjahrgängen hat sich das massiv verändert.“ Nitsche wertet dies als deutliches Zeichen für sich sehr schnell wandelnde Prozesse in Bezug darauf, wie Frauen ihre akademische Karriere mit Familie vereinbaren können. Sie vermutet, dass soziale Lernprozesse dahinterstecken. Die Ursachen für das veränderte Geburtenverhalten sind bislang nicht untersucht. Ob die Frauen, die in den 1970ern geboren wurden, es bewusst anders machen wollten als ihre älteren Kolleginnen, von denen sehr viel mehr kinderlos blieben, ist eine spezifische Frage, der Nitsche weiter nachgehen möchte.
Es gibt also große Unterschiede zwischen den Geburtskohorten, was die Parameter Durchschnittsalter bei der ersten Geburt und Kinderlosigkeit angeht. „Wir zeigen in unserer Studie, dass Frauen nicht automatisch weniger Kinder bekommen, wenn sie ihr erstes Kind spät gebären. Auch der Anteil der Frauen, die am Ende kinderlos bleiben, steigt nicht zwingend, wenn Frauen später Mütter werden“, sagt Nitsche. Die Studie von Nitsche ist rein deskriptiv, d.h. sie beschreibt das Geburtenverhalten von Frauen verschiedener Geburtsjahrgänge. Sie analysiert jedoch nicht die Gründe dafür, wie viele Kinder Frauen bekommen, in welchem Alter sie bei den Geburten sind oder warum sie kinderlos bleiben. Künftig möchte die Wissenschaftlerin diese Gründe untersuchen, genauso wie die emotionalen und psychologischen Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass Frauen sich für ein Kind entscheiden oder nicht. Interessant ist in dem Zusammenhang außerdem, dass die Frage, ab wann eine Frau als „spätgebärend“ gilt, auch durch gesellschaftliche Normen bestimmt wird, die sich im Lauf der Zeit verändern und auch von Land zu Land variieren können.
Abb. B: Geburtenverhalten von US-Amerikanerinnen mit Uni-Abschluss. Zuerst sinkt die Kinderzahl pro Frau, dann erst steigt das Alter bei der ersten Geburt. (1) Phase vor dem Aufschub: leicht sinkendes Alter bei der ersten Geburt bei relativ hoher Kinderzahl pro Frau. (2) Übergangsphase: allmählicher Anstieg des Alters bei der ersten Geburt und rasch sinkende Kinderzahl pro Frau. (3) Phase der Aufschub-Pionierinnen: Anstieg des Alters bei der ersten Geburt und deutlich sinkende Kinderzahl pro Frau. (4) Phase des „modernen“ Aufschubs: relativ hohes Alter bei der ersten Geburt und Zunahme der Kinderzahl pro Frau. (5) Konvergenzphase: Annäherung beider Gruppen hinsichtlich Alter bei der der ersten Geburt; die Kinderzahl ist nicht ermittelbar, da die Frauen derzeit noch im gebärfähigen Alter sind.
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Die Ergebnisse von Nitsches Studie stimmen auch mit dem Modell des demografischen Übergangs überein. Der erste demografische Übergang beschreibt den Übergang von hohen Geburtenraten und hoher Säuglingssterblichkeit in einer vorindustriellen Gesellschaft zu niedrigen Geburtenraten und niedriger Säuglingssterblichkeit aufgrund verbesserter Ernährung und medizinischen Fortschritts im Zuge der Industrialisierung. Der zweite demografische Übergang bezieht sich auf den weiteren Bevölkerungsrückgang, der darauf zurückzuführen ist, dass die Geburtenraten unter zwei Kinder pro Frau im Durchschnitt fallen.
Ursache ist ein kultureller und sozialer Wertewandel weg von der traditionellen Familie hin zu mehr Selbstverwirklichung im Beruf, zunehmender Autonomie und Angleichung der Geschlechterrollen. „Während die Frauen, die in den 1920er Jahren geboren sind, noch nicht so betroffen sind vom zweiten demografischen Übergang, bekamen die Frauen, die in den späten 1930er und in den 1940er Jahren zur Welt kamen, deutlich weniger Kinder“, sagt Nitsche (Abb. B). Hier spielt natürlich auch die verbesserte Geburtenkontrolle vor allem in Form der Anti-Baby-Pille eine Rolle. Innerhalb der Demografie ist man sich allerdings nicht einig, ob die sinkenden Geburtenzahlen auf die Diversifizierung familiärer und sozialer Strukturen zurückzuführen ist oder auf Veränderungen wirtschaftlicher Strukturen. Während Soziologinnen und Soziologen vor allem den Abschied von der traditionellen Familie verantwortlich machen, argumentieren Forschende aus den Wirtschaftswissenschaften, es würden in erster Linie deswegen weniger Kinder geboren, weil die damit verbundenen Kosten immer stärker steigen. Weitere Kritik zielt darauf ab, die Theorie des zweiten demografischen Übergangs sei veraltet und berücksichtige z. B. nicht das Phänomen der Migration. Einige Forschende sprechen bereits von einem dritten demografischen Übergang im 21. Jahrhundert, der sich auf eine wandelnde ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung durch Migration und unterschiedliche Geburtenraten verschiedener ethnischer Gruppen in Europa und Nordamerika bezieht. Insbesondere in den USA werden unter dem Konzept des dritten Übergangs wachsende soziale Ungleichheiten zwischen einer alternden wohlhabenden „weißen“ und einer wachsenden jungen ethnisch diversen, aber sozial und ökonomisch häufig schlechter gestellten Bevölkerung diskutiert.
Für ihre Studie verwendeten Nitsche und Brückner Daten aus der Langzeitumfrage US Current Population Survey (CPS). Diese untersucht vor allem die Arbeitsmarktsituation und veröffentlicht alle zwei Jahre auch Daten zum Geburtenverhalten. „Wir haben uns dazu entschieden, auf die USA zu schauen, weil die CPS-Daten sehr viel besser sind als vergleichbare Survey-Daten aus anderen Ländern; durch die hohen Fallzahlen bieten diese Daten die einmalige Chance, hochgebildete Frauen repräsentativ als Gruppe über den Zeitverlauf zu untersuchen“, sagt Nitsche. Außerdem haben in den USA Frauen schon sehr viel früher Universitätsabschlüsse wie Bachelor oder Master gemacht als das z. B. in Europa der Fall war.
In der Fertilitätsforschung ist es oftmals eine Herausforderung, an gute Daten zu kommen. Besonders, wenn es darum geht, die Fertilität von Frauen darzustellen, die noch im gebärfähigen Alter sind. Bei Frauen über 50 ist das deutlich einfacher. Wenn die Daten vorhanden sind, kann man schauen, wie viele Kinder sie hatten und wann diese geboren wurden. Doch da Forschende auch das Geburtenverhalten von jüngeren Frauen verstehen wollen, die die Familienplanung noch nicht unbedingt abgeschlossen haben, müssen Maße wie z. B. das zu erwartende durchschnittliche Alter bei der ersten Geburt mithilfe demografischer Methoden errechnet werden. Dies war in der Studie von Nitsche, die auf den CPS-Daten beruht, der Fall. Außerdem war in der Umfrage nicht durchgängig die Frage gestellt worden, wie alt die Frauen bei der Geburt des ersten Kindes waren. „In 10 Prozent unseres Samples fehlte diese Angabe“, sagt Nitsche, „daher mussten wir das Alter rekonstruieren“. Die Forscherinnen untersuchten, wie viele Kinder die Frauen hatten, wie groß die Abstände zwischen den Kindern in der jeweiligen Kohorte waren und rechneten anhand dieser Werte zurück, wie alt die Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes jeweils gewesen sein mussten.
Neben staatlich erhobenen Daten wie denen des CPS in den USA, mit denen Natalie Nitsche gearbeitet hat, oder denen des Statistischen Bundesamtes in Deutschland werden Forschende künftig verstärkt auch auf Daten aus dem Netz, z. B. von Google oder aus den Sozialen Medien, zurückgreifen, wie Joshua Wilde es getan hat. Dies zeigt, dass im Zuge der Digitalisierung auch die Demografie auf neue Quellen zurückgreift, die aktuelle und für die jeweilige Fragestellung passgenaue Daten liefern.
Abbildungshinweise:
Titelbild: © iStockphoto.com / svetikd
Abb. A: Geburtenveränderung durch Covid © MPI für demografische Forschung / CC-BY-NC-SA 4.0
Abb. B: Geburtenverhalten von US-Amerikanerinnen mit Uni-Abschluss © MPI für demografische Forschung / CC-BY-NC-SA 4.0
Kasten Bevölkerungspyramiden: © MPI für demografische Forschung / CC-BY-NC-SA 4.0
Der Text wird unter CC BY-NC-SA 4.0 veröffentlicht.
GEOMAX 16, Herbst 2021; Autorin: Eva Völker; Redaktion: Tanja Fendt